Am deutlichsten wird das, wenn wir uns die einzelnen Personen der Leidensgeschichte vergegenwärtigen. Ihre Charaktere, ihre Haltungen und Verhaltensweisen sind bis heute typisch für das Verhalten von Menschen schlechthin. Werfen wir deshalb einen Blick auf ein paar Personen:
- Da ist Petrus, der im Garten Getsemani seinen Willen mit Gewalt durchsetzen will und dann im Hof des Hohenpriesters Jesus verleugnet.
- Da ist Judas, der die Freundschaft zu Jesus verrät.
- Da ist der Hohepriester und der Hohe Rat, die ihr Urteil über Jesus bereits gefällt haben und denen es nur darum geht, all ihre Vorurteile bestätigt zu wissen - wenn es sein muss, durch falsche Zeugen (heute sagen wir: „fake news“).
- Da ist das Volk, das sich aufhetzen lässt bis zum Schrei: Kreuzige ihn!
- Da ist Pilatus, der sich vor der Verantwortung drückt, der seine Hände in Unschuld wäscht und dann doch seine Macht gnadenlos ausspielt.
- Da sind die Soldaten, die Jesus Gewalt antun, ihn schlagen, ihren Spott mit ihm treiben und bloßstellen, indem sie ihm seiner Kleider berauben.
- Da sind aber auch Maria, andere Frauen und der Lieblingsjünger, die unter dem Kreuz aushalten und nicht fliehen.
- Da sind Josef aus Arimathäa und Nikodemus, die die letzte Ehre am Leichnam Jesu vollziehen und ihn würdevoll begraben, was sicher auch nicht ganz ungefährlich war.
In der Passion verdichtet sich die Welt. Die Ereignisse dort und ihre Personen stehen stellvertretend für unsere Welt so, wie sie ist – bzw. was wir aus ihr gemacht haben. Bis heute gibt es Freundschaft und Verrat, Hilfsbereitschaft und Egoismus, Achtsamkeit und Gewalt, Liebe und Hass, fairen Umgang und Bloßstellen, den Willen, einem jeden in seiner Würde gerecht zu werden und auf der anderen Seite Vorurteile und Vorverurteilungen, die geschürt werden, das Ausspielen von Macht und diejenigen, die dem hilflos ausgeliefert sind. Bis heute gibt es sie, die Petrusse, Marias, Pontius Pilatusse, Veronikas, Hannas, Kajaphasse und Judasse. Und wenn ich ehrlich bin, stecken wohl all diese Personen auch irgendwie in mir – mal mehr und mal weniger. Die Frage ist: wem gebe ich Vorrang, wen kann ich in Schach halten. Wem gebe ich recht und wem nicht.
Zunehmend habe ich das Gefühl, dass es immer schwieriger wird, die Welt in ihrer Komplexität zu begreifen. Jeder dieser Personen in mir hat ja auch Argumente auf seiner Seite, die nachvollziehbar sind, die er mir jeden Tag neu ins Ohr flüstert. „Was ist Wahrheit“, fragt Pilatus Jesus. Eine Frage, die auch ich mir oft stelle. „Was ist Wahrheit?“ Oder anders gefragt: Wer gibt Halt, nach wem kann ich mich richten? Wer gibt Orientierung in all dem?
Als Jesus von Pilatus der Menge gezeigt wird, ruft der Statthalter: „ecce home“ – „seht, der Mensch“. Mit diesem Satz weist er auf das Wesentliche hin. Es ist Jesus, besonders seine Menschlichkeit in all dem Chaos und all der Verstrickung, die mir bis heute einen Weg durch diese chaotische Welt weist, weil sie Halt (d.h. eine Haltung) (vor)gibt und Orientierung schenkt. Dafür wieder ein paar Beispiele aus der Passion:
- Jesus fühlt sich der Wahrhaftigkeit verpflichtet – „ich bin dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“
- Er steht für Gewaltlosigkeit – „steck das Schwert in die Scheide“, sagt er zu Petrus bei seiner Verhaftung
- Offenheit und Ehrlichkeit sind im wichtig – „ich habe offen vor aller Welt gesprochen“
- Er hat immer einen Blick für seine Mitmenschen – „sieh dein Sohn… sieh deine Mutter“ sagt er selbst am Kreuz mit Blick auf Maria und Johannes.
Inmitten der Passion gibt Jesus ein leidenschaftliches Plädoyer für die Menschlichkeit ab und lädt uns ein, IHM darin zu folgen. Das ist Nachfolge... und manchmal wird die auch zum Kreuz. Doch gleichzeitig – davon bin ich überzeugt - ist das unsere Rettung.
Als Jesus vor die Menge geführt wird, sagt Pilatus: „Seht, der Mensch!“ Und die Menge schreit: „Kreuzige ihn!“ Wollen wir die Menschlichkeit wirklich kreuzigen am Pfahl der Macht, der Habgier, des Protektionismus, des Egoismus, des Reichtums, der Eigeninteressen? Haben wir all unsere Ideale wie Zusammenhalt, Solidarität, Menschenwürde, Achtung, Respekt, Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung bereits begraben – so, wie Jesus begraben wurde - und einen schweren Stein davor gewälzt, damit sie uns ja nicht stören?
Die Passion zeigt uns: Es kommt kein Gott, der es mit aller Macht richten wird. „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“, sagt Jesus. „Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Engel kämpfen“. Aber die Passion zeigt auch: Es gibt eine Rettung im Namen Gottes – und die heißt: Menschlichkeit. Der Mensch gewordene Gott will uns genau darauf hinweisen. Das ist ihm ein so wichtiges Anliegen, dass er dafür sogar in den Tod geht.
Für uns kommt es darauf an, dass wir uns auf dem Weg der Menschlichkeit von Jesus in Mit-Leidenschaft ziehen lassen. Das Kreuz, das wir nun gleich verehren werden, steht dabei für eine Haltung, für SEINE Haltung: Bodenständig sein, in den Himmel ausgerichtet, wie der Längsbalken und solidarisch handelnwofür der Querbalken steht. „O heil’ges Kreuz sei uns gegrüßt, du unsre einz’ge Hoffnung bist“, bekommt damit einen Sinn.
Und schlussendlich sagt uns die Passion noch etwas: Menschlichkeit lässt sich nicht begraben. Wenn wir daran glauben, wächst etwas durch den Stein des Todbringenden hindurch: etwas für das Gott steht und für das Jesus immer eingestanden ist: das Leben und die Liebe.